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 Silje Nergaard: Darkness ...

CD-Review

 

Silje Nergaard: Darkness out of blue

(erschienen: April 2007)

 

Harmlos eingängige Melodien, aber aufregende Strukturen –

Silje Nergaard sitzt bequem zwischen allen Stühlen

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Jazz-Liebhaber sind eine anspruchsvolle Spezies. Je nachdem, welche Art von Jazz zwischen Oldtime Jazz und Free Jazz sie eigentlich mögen, so erwarten sie bestimmte Dinge in der Musik, die sich dem Genre Jazz zugehörig fühlen darf. Was sie meistens nicht erwarten, sind kantenlose Melodien, eingängige Melodien, die wunderschön dahinfließen. Jazz tendiert immer etwas zur Schrägheit.

 

Silje Nergaard hat das Pech, dass sie im Zeitalter der In-Schubladen-Hineinstecker dem Genre Jazz zugeordnet wird. Als sie 1990 mit ihrer ersten Veröffentlichung begann, hatte sie ein Pop-Album herausgebracht, das von Pat Metheny an der Gitarre mit eingespielt wurde. Die Kombination von Pop mit etwas Jazz erwies sich auch auf den nächsten Alben in ihrer Heimat Norwegen, aber auch in England und Japan als erfolgreich. 1996 machte sie, auch bedingt durch eine Schwangerschaft, eine Pause und kehrte dann ab 2000 mit Jazz-Alben zurück, die etwas Pop-Einschlag hatten – und in Norwegen jeweils die Pole Position der Charts erreichten.

 

Weiblich, nicht mehr ledig und mittlerweile über 40 veröffentlichte Silje Nergaard nun im Jahre 2007 ihr neuestes Werk, „Darkness out of blue“, und sitzt damit wiederum zwischen vielen Stühlen. In den meisten Online-Shops und Online-Magazinen in die Rubrik Jazz eingeordnet, ist ihr Album jedoch eine perfekte Mischung aus Pop und Jazz, mit einigen klassischen und Folk/Country-Einflüssen – und einmal scheint sogar ein Gospel durch. Die Melodien fließen, harmlos und eingängig wirkend, seicht dahin, man könnte das Album im Prinzip schon über-hören, wenn man im Sommer auf der Terrasse sitzt und nur etwas Hintergrunduntermalung mit Pop-Balladsen und Bar-Jazz sucht. Hört man aber genauer hin, dann überraschen so einige Strukturen auf dem Album und in einzelnen Liedern. Und genau diese Überaschungen hindert sicher auch die Musikredakteure des Dudelfunks daran, diese eingängigen Melodien im Radio anzubieten.

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Ungewöhnlich schon einmal der Auftakt zu dem Album. Wer fängt denn da mit einer ganz langsamen Ballade ein Album an? Paper boats ist minimal instrumentiert, mit einer Harfe unterlegt, erst im Laufe des Liedes setzen Streicher zur Unterstützung ein. Bei Silje Nergaard hat das System. Im Interview auf ihrer Konzert-DVD „Silje Nergaard Live in Köln“ meinte sie, mit einer Ballade zu starten, auch ein Konzert, bringt die Zuhörer dazu, wirklich zuzuhören und sich auf das zu konzentrieren, was folgt: die Musik. Nach Paper boats sind wir also konzentriert und gespannt, was noch folgen wird.

 

Im zweiten Titel Darkness out of blue wird die Minimalinstrumentierung aufgegeben. Mit Akustikgitarre und Piano startend, zieht das Lied dann merklich das Tempo an und entwickelt sich zu einem schwungvollen Pop-Jazz-Titel, dessen Höhepunkt ein schönes Piano-Solo ist.

 

Mit The diner folgt ein poppiger Titel, der von der Gitarrenarbeit (akustische Gitarren mit zusätzlichen Slide-Gitarren-artigen Einsprengseln) lebt. Die Gitarren duellieren sich schließlich auch im Solo, was somit ja auch gar kein Solo, sondern ein komplexerer Instrumentalteil ist. Wer bisher noch nicht hingehört hat, tut es spätestens jetzt.

 

Wastelands ist ein klassischer Bar-Jazz-Titel, der von einer schönen Chorbrücke im hinteren Drittel lebt. Was insgesamt schon auffällt: die klassischen Drei-Minuten-Song-Strukturen sind aufgehoben. Die Lieder von Silje Nergaard bewegen sich meist zwischen Fünf- und Sieben-Minütern mit schönen Instrumentalteilen und  Brücken sowie Wechseln in der Melodie.

 

Ein wunderschöner Pop-Titel ist When Judy falls. Schnell und mitreißend, trotzdem schön und harmonisch. Mit Fender Rhodes,  Klavier, Akustikgitarre und Streichern startend, entwickelt sich der Titel am Ende zum mitreißenden Flöte-gegen-Stimme-Duell, das den Titel fast instrumental über einige Minuten ausklingen lässt. Die Stimme, Silje solo und Chor im Wechsel, beschränkt sich dabei auf ein „dehdeditditdeh“, was die Bezeichnung Instrumentalteil rechtfertigt.

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The beachcomber ist wiederum eine Bar-Jazz-Ballade, die sich zwei Mal im Verlauf des Liedes steigert. Dieser Titel ist wahrscheinlich der, den Jazz-Liebhaber auch als Jazz akzeptieren würden, konzentriert man sich dabei insbesondere auf das jazzige Piano-Solo von Helge Lien, dem neuen Pianisten der Silje-Nergaard-Band. Das Klaviersolo wird nur von getupften Drum-Schlägen und Kontrabass-Zupfern untermalt.

 

Eine nur von Klavier begleitete Ballade ist What might have been. Das Piano-Intro ist dabei schon fast klassisch zu nennen.

 

Wer das Album bis hierhin gehört hat, sollte sich jetzt möglichst noch keine Meinung gebildet haben. Eingänge Meodien, aber recht harmloser Pop-Jazz, würde das Urteil vielleicht bis hierhin lauten. Lauschgeduld verlangt es aber, das Album bis zum Ende zu hören, und die richtige Aufregung im positiven Sinne wartet noch mehrfach.

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Aren’t you cured yet ist so ein aufregender Titel, den man sofort mehrfach hören muss, hat man ihn das erste Mal doch noch nicht so richtig erfassen können. Die sehr groovende Melodie ist im ersten Augenblick Bestandteil einer üblichen Song-Struktur mit Strophe, Refrain, Instrumentalsolo .. bis man bemerkt, dass das nicht stimmt. Und da gibt es in anderen Musik-Genres schon vergleichbare Fälle ...

 

Als ich für den Lone Reviewer meine Top-Instrumentaltitel aufschreiben wollte, hatte ich einen haushohen Favoriten im Bereich Hard-Rock: Deep Purple mit „Mandrake root“, live gespielt über 30 Minuten lang. Beim Kontrollhören des Titels vor der Veröffentlichung dieser Top-Liste musste ich dann aber erschreckt feststellen, dass da in den ersten zwei Minuten noch gesungen wurde – es war einer dieser typischen Deep-Purple-Instrumentaltitel mit einem Alibi-Gesangsteil, der weit weniger als zehn Prozent des Titels ausmacht (ähnlich bei Lazy und The mule).

 

Und die norwegische Band Secret Garden hatte Mitte der 90er Jahre einmal den Eurovision Song Contest gewonnen mit einem skandalösen Titel .. na ja, der Titel war wunderschön melodisch, toll instrumentiert und gesungen, aber die Song-Struktur war skandalös für den Wettbewerb, der sich früher ja Grand Prix de la Chanson nannte. Secret Garden’s Siegertitel Nocturne bestand aus genau einer Textzeile am Anfang des Titels, die am Ende wiederholt wurde. Dazwischen wurde einfach nicht gesungen. War das ein Chanson?

 

Aren’t you cured yet stellt sich nach mehrmaligem Hören dann auch als Instrumental-Titel mit Alibi-Strophen heraus. Nach dem groovenden Beginn mit Klavier, Bass, Schlagzeug und Akustikgitarrensprenkeln kommt eine Strophe und der Refrain, und dann setzt schon nach 80 Sekunden der Instrumentalteil ein. Zunächst wie eine Instrumentalbrücke oder ein Solo wirkend, baut sich der Titel immer komplexer auf. Den Ton gibt zuerst eine Klarinette an, die zusammen mit weiteren Flöten auch im weiteren Verlauf des Titels sich immer wieder zu Wort meldet. Die Basslinie im Hintergrund wird komplexer, aber auch die Gitarre meldet sich mit einigen Tupfern zu Wort. Während man im ersten Durchlauf dann noch glaubt, dass das lange Instrumental-Mittelstück noch doch gleich die nächste Strophe einleiten muss, wird man eines besseren belehrt, da diese nächste Strophe vom Klavier gesungen wird, das die Klarinette als Wortführer ablöst. Interessant beim konzentrierten, mehrfachen Zuhören über Kopfhörer, wie jeder Ton der vielen beteiligten Instrumente „sitzt“ .. und man mit jedem Lauschen noch einige weitere Tontupfer entdeckt. Wie bei dem vorhin erwähnten Nocturne von Secret Garden, wiederholt sich bei 3:20 Laufzeit noch einmal der Refrain. Und während man schon daran denkt, dass jetzt vielleicht noch ein oder zwei Gesangsstrophen folgen könnten, übernimmt plötzlich bei 3:45 schon wieder die gesamte Instrumentenriege die Regie, nimmt den Groove des ersten Instrumentalteils auf und lässt den Titel auch instrumental ausklingen. Selbst beim soundsovielten Hören begeistert mich dieser Titel immer wieder: Melodie, Instrumentierung, aber insbesondere die aufregende Struktur dahinter, die sich eben deutlich von klassischen Song-Strukturen im Pop unterscheidet.

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Die nächste Überrasching folgt gleich danach: Who goes there startet mit Akustikgitarre und Streichern, ohne Bass und Schlagzeug, als klassische Ballade. Nach den ersten Strophen kommt aber plötzlich ein Shaker dazu und es singt Marcio Faraco, ein brasilianischer Sänger und Songwriter, der einen leichten Samba- und Bossanova-Touch in diesen Titel bringt .. genau auf den Punkt setzt auch der Shaker als einzige Percussion-Untermalung ein. Die klassische europäische Ballade wird durch minimale Änderungen zum brasilianischen Bossanova, auch ein interessanter Effekt. Who goes there klingt mit mehrstimmigen Chor aus, und wirkt wie eine der großen Chicago-Schmachfetzen der 80er Jahre.

 

Noch gibt es drei weitere Titel auf dem Album .. und es folgt noch eine Überraschung nach der Anderen.

 

Before you called me yours versetzt einen in die USA in die Stilrichtung des New Country vermischt mit normalen Pop-Ingredentien. Shania Twain und Alison Krauss lassen grüßen. Die Country-Klänge werden durch die Instrumentierung hervorgerufen, die aus diversen Gitarren und einer Dobro bestehen. Und ein Gitarrensolo ist auch nicht genug, nein, es müssen hier schon zwei sein.

 

Vom Country geht es nun zum Gospel: How are you gonna deal with ist startet mit einer warmen Hammond-Orgel, die einen sofort in eine amerikanische Kirche hineinversetzt. Verschiedene Gitarren (unter anderem auch eine Steel-Gitarre) und die Orgel begleiten dann Siljes teilweise sehr tiefen Gospelgesang. Im Hintergrund baut sich dabei langsam ein Gospelchor auf. Der Titel nímmt an Fülle zu, was durch unaufdringliche Bläser im Hintergrund erreicht wird, die klangliche Leerräume ausfüllen. Und während man sich schon in der Sicherheit eines schönen Gospeltitels wähnt, durchbricht plötzlich ein E-Gitarren-Solo die bisherige Struktur: Björn Charles Dreyer, seit einiger Zeit Stammgitarrist bei Silje Nergaard, „gniedelt“ sich auch einige Male wie Lindsay Buckingham von Fleetwood Mac so richtig fest. Weitere Gitarrensprengsel und sich steigernde Choranteile bestimmen das Schlussdrittel des Songs, das interessante Tempostopper und Aussetzer beinhaltet, wobei sich alle Beteiligten so langsam in Trance steigern.

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Der Schlusstitel  des Albums ist einer der Siebenminüter, Let me be troubled. Und die Struktur dieses Liedes erinnert wiederum an die Band Chicago der 70er Jahre: Auf dem Album XI beginnt die tolle Ballade Little One mit zwei langen Intros von insgesamt fast vier Minuten (The inner struggles of a man / Prelude). Silje Nergaards Let me be troubled beginnt auch als klassisches Klavierstück, das nach etwa einer Minute von einem Streichorchester begleitet wird. Auch hier beginnt der eigentliche Titel erst nach 2:38, eingeleitet durch einige Schlagzeugtupfer. Das Album endet dann mit einer romantischen Ballade.

 

Kritisiert wurde Silje Nergaard für dieses Album viel. Irgendwie ist das Album etwas harmlos, sehr eingängig. Irgendwie ist das aber kein Jazz mehr, sondern seichter Pop. So ist das aber nicht: sicher sind die Melodien eingängig, die Strukturen in den Liedern aber aufregend, und wer auf Details achtet, hat bei vielen Instrumenten an vielen Stellen des Albums auch viel zu entdecken.

 

Die Produktion ist sehr transparent gehalten, so dass einem dieses Entdecken auch Spaß macht. Und wer Silje Nergaards Stimme nun auch noch mag, kann mit diesem Album nichts mehr falsch machen: für viele hört sich Siljes Stimme etwas hoch, dünn und gepresst an ... aber die Stimme hat das gewisse Etwas, das zumindest mich begeistert hat.

 

Ein schönes Pop-Jazz-Album mit leichtem Bossanova-, Country- und Gospel-Touch in einigen Titeln .. und vielen Überraschungen in der Struktur ... so sitzt auch Silje Nergaard sehr bequem zwischen einer Vielzahl von Stühlen ...

 

a.h. (andreas@lonereviewer.de)

 

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Offizielle Pressefotos (siljenergaard.com) von Mathias Bothor

 

Links:

 

Offizielle Seite von Silje Nergaard:

 

http://www.siljenergaard.com/

 

Offizielle MySpace-Seite:

 

http://myspace.com/siljenergaard

 

Fan-Seite für Silje Nergaard aus Holland:

 

http://www.silje.nl

 

 

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