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 Regy Clasen: Wie tief ist das Wasser

Trotz harter Konkurrenz in diesen Wochen (da kam doch noch das Debut-Soul-Wunderwerk von Joss Stone auf den Markt und die neue CD von Sophie Zelmani) stammt die bisher beste CD des Jahres 2004 in diesen ersten Apriltagen von einer Hamburgerin: Regy Clasen. Regy steht für Soul, Rhythm and Blues und Balladen mit deutschen Texten. Und das sagt der Hard-Rock-Spezialist vom Lone Reviewer. Völlig verkehrte Welt? Tatsächlich, völlig verkehrte Welt in vielfacher Hinsicht.

 

Beim Cover schon stockt einem der Atem: Regy mit Mund und Nase unter Wasser, das neue Ziel zwar noch fest im Blick, aber wird sie solange den Atem anhalten können? Was das Cover mit der Entstehungsgeschichte von „Wie tief ist das Wasser“ zu tun hat, dazu später noch mehr.

regy-cover

Üblicherweise ist der „Takt“ der Musikproduktionen ein seit Jahrzehnten eingefahrener: Da erscheint zunächst die Studio-CD, oft etwas glattpoliert und überproduziert. Danach gehen die Künstler auf Tour, man erlebt sie dann live oder auf einer Live-CD oder -DVD zur Tour. Bei guten Live-Performern (und nur für die interessiere ich mich) ist dann das Live-Erlebnis noch einige Stufen besser als die Studio-CD, die Studio-CD verschwindet tief hinten im Regal und wird durch die Live-CD als Dauerläufer im CD-Player ersetzt.

 

Völlig verkehrte Welt bei Regy Clasen und ihrer neuen CD „Wie tief ist das Wasser“. Ende Februar war ich zunächst im Konzert und habe alle 14 Titel der neuen CD live gehört (ein Erlebnis, was in der Rubrik „Konzertberichte“ hier auf dem Lone Reviewer beschrieben ist). Vor wenigen Tagen wurde nun für Vorbesteller die neue CD von Regy Clasen eigenhändig mit Widmung verschickt, dazu gab es einen Zugangscode für die Aufzeichnung des eben erwähnten Live-Konzertes, die in Form von mp3-Files auf regyclasen.de bereitsteht. Auf einem der Studio-CD beigelegten Rohling konnte man sich dann eine Live-CD selbst brennen.

 

Für mich setzte sich die völlig verkehrte Welt nun durch einen Zufall fort: Ich war auf Reisen, bekam den Zugangscode für die Live-Versionen der Titel per Mail übermittelt, kam aber an die per Post zu mir nach Hause verschickte Studio-CD noch nicht heran. Also hörte ich Ende März im Dauerbetrieb unterwegs die Live-CD .. und für mich als Live-Musik-Fan war nach dem tollen Konzert und der hervorragend gelungenen Aufzeichnung klar, dass die Live-Version nun auch die eigentlich wichtige war. Diese Rezension war im Kopf und in Kladde schon so gut wie fertig, sie würde sich vor allem auf diese geniale Live-CD beziehen. Musik von acht Leuten auf einer viel zu engen Bühne in einem übergroßen Wohnzimmer gespielt, aber mit viel Herz und Seele und großer Perfektion selbst bei schwierigen (Vokal-)Passagen ...

 

Als ich in typischer Informatiker-Manie schon darüber sinnierte, ob das nicht der Vertriebsweg der Zukunft sei für Künstler, die unabhängig von den großen Musikkonzernen arbeiteten (Zugangscode verkaufen und Musik dann online an die Fans vertreiben), wartete die große Überraschung zu Hause. Nachdem das Päckchen von Regy geöffnet war, wartete eine aufwändig gemachte CD-Hülle auf mich, MaxPac genannt. Man konnte aufklappen und aufklappen, entdeckte die Texte, die Seite mit der Auflistung aller beteiligten Musiker, die Seite mit den ausführlichen Danksagungen, die Seite mit den Komponisten und Textern ... wo waren eigentlich die beiden CDs? Nach vielem Hin- und Herklappen waren auch die endlich gefunden. Das Erlebnis des Klappens und Lesens hätte man in dieser Form natürlich in einer offiziellen Download-Version – aber auch in einer inoffiziell kopierten Version – nie gehabt. Allein das Booklet war also schon sein Geld wert – ach ja, und für alle Fans von Regy Clasen, die die Texte auch gern bei Kerzenschein lesen möchten, sei gesagt, dass das nun im Gegensatz zur ersten Regy-CD „So nah“ auch möglich ist (vor vier Jahren waren die Texte des Debutalbums mit relativ schlechtem Kontrast in das Booklet gedruckt worden).

 

Dann hörte ich die Studio-CD, natürlich mit vielen Vorurteilen. Die Live-Variante war ja so toll, was sollte da schon noch kommen? „Regy im Studio“ hatte mit „Regy auf der Bühne“ eine übermächtige Konkurrentin bekommen.

 

Einige Titel bestätigten mein Vorurteil. „Endlich“ in der Live-Version zum Beispiel wird kein Titel mehr so schnell das Wasser reichen können. Im letzten Jahrzehnt konnte eine Handvoll von Musiktiteln für mich das Prädikat „All-Time-Favorite-Song“ erhalten, und die Live-Version von „Endlich“ gehört dazu (siehe auch Rubrik „All-Time-Favorites: Songs“ auf dem Lone Reviewer) . Als ich Ende März die Live-CD in Dauerrotation hörte, kam am Ende des Konzerts die x-fache Wiederholung von „Endlich“ als krönender Abschluss dazu. Und im Studio? Ein schöner Titel, etwas verspielt, weniger druckvoll beim Dynamikwechsel während der Titelzeile „Endlich!! Scheint mir die Sonne ins Gesicht“. Und die Sonnenstrahlen, die man live in Form der Querflöte von Matthias Clasen hört, wurden im Studio durch elektronischere Klänge aus dem Keyboard ersetzt. Selbst das von Regy gesungene Saxophonsolo („Dadaaadaijadaija“) ist live dynamischer und „freier“ als im Studio. In der Studioversion fällt immerhin noch ein gesungenes Schlagzeug-Break auf (wer singt das eigentlich?), in der Live-Version spielt Emre Akca dieses Break ganz normal an den Schlaginstrumenten. Aber egal: gleich ob in der Studio- oder Live-Version, ein schneller, dynamischer Gute-Laune-Titel, perfekt passend zu einem Tag „ohne jeden Makel“ wie einem sonnigen Frühlingstag ..

 

Ein zweites Beispiel für die Bestätigung meines Vorurteils, dass bei guten Live-Künstlern wie Regy Clasen die Live-Variante eines Titels die bessere Lösung ist: „Schwindelig“. Dieser Titel ist im Studio ein anderthalb Minuten langes Zwischenspiel, mit einem für eine gute Texterin wie Regy witzigen Text. Regy ist scheinbar verliebt, der Angebetete wünscht sich einen schönen Text von ihr, und sie kann keinen klaren Gedanken fassen, und produziert nur Berge von zerknülltem Papier. Nun ja, bei diesem Text ist eigentlich klar, warum dieser Titel nur anderthalb Minuten dauert .. Regy fällt kein Text ein  Bis zum Live-Konzert hatte sie dann wohl noch mehr Zeit, zu überlegen, und Live wurde ein ausgewachsener 4-Minuten-Titel daraus, mit tollem Flötensolo ihres Bruders. Auch die schönsten Stellen im Text gibt es nur live: Wer hat schon einmal den Beruf des „Landschaftsgärtners“ in einem deutschen Pop-Soul-Text verewigt? Und das „ich kann so nicht arbeiten“ im Text ist so schön verzweifelt, wie es ein Regy-CD-Hörer jetzt auch singen könnte, wenn er neben der Arbeit am Schreibtisch die neue CD hört und sich plötzlich in die Texte von Regy hineinhört und somit kein Arbeiten mehr möglich ist ...

 

Weitere Vorteile der Live-Version: Mathias Clasen ist live fast im Dauereinsatz an Saxophonen oder Flöte, mit vielen Soli. In der Studio-Version spielen die Bläser um Mathias Clasen, die Boxhorns, nur bei zwei Titeln mit. Der Klang bei den optimal nachgemischten Live-Titeln, die Gitarren und Keyboards sind „organischer“. Und der Gesang von Regy wirkt live kräftiger, im Studio eher zurückgenommen. Und die Live-Effekte wie Ansagen, Zuschauerreaktionen, Mitsingen eines 180-köpfigen Backgroundchores .. kann man auf den Studio-Titeln natürlich auch nicht finden.

 

Trotzdem: Im Vergleich zum Debutalbum „So nah“ merkt man die unangenehmen Seiten einer „dominanten“ Studio-Produktion nicht mehr. Bei der Rezension von „So nah“ hatte ich Produktionseffekte bei vielen Titeln kritisiert, bei „Wie tief ist das Wasser“ ist die Produktion, insbesondere die Stimmen, Gitarren und Schlagzeug (oder Cajon) kristallklar. Bei „Da werd ich sein“, einem der Höhepunkte des Live-Konzerts (hier steuerte das Publikum durch Mitschnippsen,. Mitklatschen und Mitsingen einiges bei), ist auch die Studio-Version, angereichert durch Bläser, hervorragend gelungen. Bei den Gitarren ist zum Beispiel der Anschlag so knackig, dass ich einmal erschrocken aufsprang und besorgt zu meinen Boxen gelaufen bin .. in der gleichen Lautstärke hatte ich vorher Jazz-Rock der neuen Live-DVD von Chicago gehört, und das klang gegen Regy’s CD fast etwas verhalten. Bei den Boxen hätte ich gern mal nachgeschaut, ob der Gitarrist Jürgen Scholz da direkt drinsitzt .. ach nein, im Studio hatte ja bei „Da werd ich sein“ Ulrich Rode die Gitarren gespielt ..

 

Gehofft hatte ich in den Tagen vor dem Hören der Studio-CD auch, dass im Titel „Keine Liebe mehr“ die schönen, aber eher nach Glashaus oder Rosenstolz klingenden satten Synthesizer-Klänge durch echte Celli ersetzt werden. Und so kam es. Meine Frau tippte auch schon nach Sekunden auf den Musiker, der diese eingespielt hatte: „Das muss Hagen Kuhr sein“. Bei „Keine Liebe mehr“ ist also die Studio-Version durch die Celli „erdiger“ als die Live-Version.

 

Live und im Studio gleich schön ist der Fast-Titel-Track des Albums „Fischer, Fischer“, dessen Titelzeile mit „wie tief ist das Wasser“ weitergeht. In der Geschichte hinter dem Text kann man sich die Künstlerin Regy vorstellen, die am Ufer steht und gern zu neuen Ufern (einer neuen CD) aufbrechen möchte. Die großen Kreuzfahrtschiffe für die Schönen und Reichen holen Regy aber leider nicht vom Ufer ab (ein solches Schiff mit dem Namen Sony hat Regy sogar gerade von Bord geworfen), weil sie mit Kunstprodukten wie Aguileras und Britneys ausreichend besetzt sind. Verbündete findet Regy wohl nur bei den kleinen Fischerbooten, die vor dem Ufer herumtuckern (wie hört sich das typische Tuckern eines Fischerbootes doch gleich noch an: „Rintintintin ..“), noch Naturprodukte verkaufen und deren Handarbeit bei der zahlenden Kundschaft im nächsten Hafen wohl hoffentlich auch noch geachtet wird .. Darum: Regy hat sich in die Fluten gestürzt und hoffentlich wird ihr Atem reichen ..

 

Auch bei allen anderen Titeln der Studio-Produktion ist der Klang knackig und transparent (man kann deutlich die einzelnen Instrumente voneinander unterscheiden). Alle Musiker und auch Regy scheinen sich im eigenen Wohnzimmer zu befinden und einem „privat“ vorzuspielen. Die Arrangements sind (wie auf „So nah“ schon) sparsam, aber gerade diese Sparsamkeit lässt die schönen Melodien und zuhörenswerten Texte sowie das Können der Musiker besser zur Geltung kommen – allen voran Regy’s Stimme.

 

Die große Überraschung auf der Studio-CD kam allerdings dann bei einem Titel, den ich glaubte, schon in-und-auswendig zu kennen. „So gerne“ wurde bereits früher in einer Live-Version auf regyclasen.de zum Download bereitgestellt. Dann hatte ich „So gerne“ live im Konzert gehört, und eben x-fach Ende März auf der Live-CD. Und dann das: Der Text und Regy am Klavier verursachen zwar schon einen Gänsehaut-Effekt, aber in der Studio-Produktion schleicht sich langsam im Hintergrund noch etwas in die Gehörgänge, was sich besser erklären lässt, wenn man weiß, was ich gerade vorher gehört hatte ..

 

Am gleichen Tag hatte ich die neue Live-DVD der seit 37 Jahren existierenden Band Chicago bekommen. Chicago war für Jazz-Rock bekannt geworden, aber auch für tolle Balladen mit Akustikgitarren oder Keyboards. Im Hintergrund wurde auch bei den Balladen immer ein  weicher, Gänsehaut verursachender Teppich aus Trompete, Saxophon und Posaune gelegt. Ab Anfang der 80er Jahre wurde das leider zur Masche und die etwas herzlosen Schmusesongs  von Chicago wurden geboren, die aber wohl auch immer von der Plattenfirma in dieser Weise „bestellt“ wurden, und den Musikern selbst eher Magenschmerzen bereiteten. In der Anfangszeit von Chicago war der Bläserteppich unter den Balladen kein Schmalz, sondern ein echtes Kunstwerk.

 

Regy’s Begleitband auf „So gerne“ heißt zwar nicht Chicago, ist aber das deutsche Gegenstück der drei Chicago-Bläser, die Boxhorns um Regy’s Bruder Mathias. Das Arrangement der Bläser, die die leise Ballade am Klavier unterstützen, ist weich und eben auch Gänsehaut verursachend. Insbesondere der weiche Übergang einige Sekunden vor Beginn der letzten Strophe („und zuhause wartet ein anderer auf mich – trotzdem“) verursacht beim genauen Zuhören etwas, was man schon mit dem englischen Begriff „gooseBUMPS“ beschreiben muss – und die BUMPS waren ganz schön groß.

 

So ist das, wenn man aufgrund einer perfekten Live-CD die Studio-Version als Live-Musik-Fan schon fast abschreibt. Bei „Wie Tief ist das Wasser“ bot die Studio-CD dann doch noch positive Überraschungen.

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(Anmerkung: Eine ausführlichere Besprechung aller 14 Titel einzeln, sowohl in der Studio- als auch in der Live-Version, wird in den nächsten Tagen noch auf dem Lone Reviewer folgen.)

 

Der Vergleich von Studio-CD und Live-CD ist auch müßig. Man hat ja beides – zum Preis von einer! - und kann sich die Lieblingsversion seines Titels je nach Laune aussuchen. „Endlich“ werde ich beispielsweise immer von der Live-CD hören, „So gerne“ von der Studio-CD. Und noch zum Preis: Viele Musiksammler (ich möchte sie nicht „Fans“ nennen) lügen sich ja immer ach so wichtige Argumente in die Tasche, warum man CDs doch besser brennt oder die mp3s in Tauschbörsen besorgt. Beispielsweise sind die CDs so teuer. Unsinn in diesem Fall: Bei Regy Clasen bekommt man 130 Minuten Musik, derzeit zum Preis von 15 Euro. 130 Minuten Musik, das war in den 70ern eine dichtgepackte Dreifach-LP, und die gab es wohl auch so für 29,90 DM. Somit hat man beim Kauf von Regy’s CD sogar eher die Preise der 70er Jahre – ohne Inflationsrate. Dann wird immer behauptet, es gäbe ja nur zwei oder drei gute Titel auf der CD und der Rest ist Füllmasse. Auch das gilt nicht bei dieser CD, bei der sicher kein einziger Titel als Füller bezeichnet werden kann. Oder man sagt, es verdienen ja nur die großen Musikkonzerne. Auch das stimmt hier nicht, da Regy Clasen die Produktion allein finanziert hat und kein großer Musikkonzern dahintersteht (sondern eben ein Fischerboot namens „Rintintin“). Und schließlich bietet die CD angeblich keinen aufregenden Mehrwert wegen fast nicht vorhandener Booklets. Auch dieses Argument hatten wir ganz oben schon entkräftet. Apropos Mehrwert: Wer direkt bei Regy Clasen im Web bestellt, bekommt sogar eine persönliche Widmung. Auf der anderen Seite macht die Musik so süchtig, dass man dankbar registriert, dass die CD keinen Kopierschutz hat. Der Kopie für den CD-Player im Auto und die mp3-Version für das Notebook auf Reisen steht also nichts im Wege.

 

Auf dem Cover der CD „Wie tief ist das Wasser“ steckte Regy bis über die Nase im Wasser. Wenn man die Qualität beider CDs betrachtet, so wird sie hoffentlich so lächelnd wieder auftauchen, wie sie auf der Rückseite der CD zu sehen ist, zwar „klatschnass“, aber glücklich.

 

Und ab und zu mache ich schon vorsichtige Versuche in der Suchtbekämpfung gegen diese CD. Ich habe heute schon einmal die neuen CDs von Joss Stone und Sophie Zelmani wieder gehört. Joss Stone, die tolle Soulstimme, aber ohne Eigenkompositionen. Sophie Zelmani, die schwedische Songschreiberin mit tollen und leichten Melodien, mit ihrer verführerischen Hauchstimme, die aber wenig geeignet ist für Stimmakrobatik. Regy hat alles: Eine Soulstimme, die selbst live bei vokalakrobatischen Passagen noch „hält“, tolle Eigenkompositionen, tolle Texte, ...und eben für mich unverzichtbare Live-Qualitäten, die mir Joss Stone und Sophie Zelmani in nächster Zeit erst noch beweisen müssen. Ogottogott, ich merke schon, der Rückfall kommt schon wieder .. gleich wird wohl wieder „Wie tief ist das Wasser“ im Player landen ...

 

Andreas (andreas@lonereviewer.de)

Fotos mit freundlicher Genehmigung durch Hasko Witte (www.bkw-net.de)

Foto-Credits: Tristan Ladwein, Sebastian Schmidt

 

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