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 The Corrs - Borrowed Heaven

The Corrs – Borrowed Heaven (2004)

 

Im Sketch „Auf dem Hochsitz“ der NDR-Comedy-Serie „Stenkelfeld“ erklärt Förster von Lausitz-Ölpen dem entsetzten Reporter, warum er Dachse, Rehe, Hasen, Spechte und anderes Getier schießen muss: Die bringen im Wald alles in Unordnung. Wühlen den Boden auf, um sich Höhlen zu bauen, und das sieht nicht aus. Knabbern die Rinde von Bäumen ab und das sieht nicht aus. Durchlöchern Baumäste und das sieht nicht aus. Und selbst Bäume müssen weichen, weil sie dem Gras das Licht wegnehmen und sogar noch Blätter fallen lassen .. und das sieht nicht aus. Ich habe den Sketch damals weitergesponnen und stellte mir eine Dampfwalze vor, die die ganzen Bäume und Sträucher plattwalzt. Wenn man dann noch eine Lackschicht über den glattgewalzten Pflanzenbrei gießen würde, könnte man jeden Tag eine Reinigungskraft für den Wald engagieren und alles blitzt und glänzt .. und Förster von Lausitz-Ölpen wäre glücklich.

 

Der Förster der irischen Band „The Corrs“ heißt Olle Romo und ist der Produzent ihres neuen Studio-Albums „Borrowed Heaven“. Um es gleich vorwegzunehmen: Olle Romo ist das einzige Haar in der Suppe, das man im neuen Corrs-Album finden kann. „Borrowed Heaven“ ist ansonsten ein fantastisches Back-to-the-Roots-Album der vier irischen Geschwister, die eine wunderschöne Mischung aus Pop, (irischem) Folk und Rock spielen.

 

Betreten wir zuerst den Corrs-Wald einmal, bevor Förster Olle Romo seine Tätigkeit angefangen hat. Wie „Borrowed Heaven“ im Normalzustand geklungen hätte, kann man sich interessanterweise in Internet-Video-Streams anhören. Ein „Electronic Press Kit“ (EPK) von etwa 30 Minuten zeigt ein akustisches Konzert, an dem neben Andrea, Caroline, Jim und Sharon Corr auch die ständigen Bandmitglieder Anto Drennan und Keith Duffy beteiligt sind. Die sechs sitzen in einem spartanisch nur mit Bänken und Stühlen eingerichteten weißen Raum und spielen mit akustischen Instrumenten sieben Titel von „Borrowed Heaven“. Was dadurch entsteht, ist ein wunderschöner irischer Naturwald bestehend aus dominierenden Violinenklängen, vielen Tin-Whistle-Teilen, verschiedensten Percussion-Instrumenten (von Snare-Drums über Kuhglocken, Bongos, Congas, Tambourine), Flügel und Gitarren.

 

Die mitreißendsten Lieder „Angel“ und „Humdrum“ gehören für mich zum Besten, was die Corrs seit ihrem Debut in 1995 so komponiert und auch getextet haben. Selbst mit akustischen Instrumenten „rocken“ diese Titel gewaltig. Andere Perlen sind das mehr balladeske „Long Night“, das dem Corrs-Klassiker „Runaway“ in nichts nachsteht, die poppige Perle „Hideaway“ und das instrumentale „Silver Strand“, das Violine und Tin Whistle als Hauptinstrumente bestimmen. Selbst der etwas einfältige und stromlinienförmige Single-Hit „Summer sunshine“ ist in dieser gestrippten „Naturversion“ ein echter Ohrenschmaus.

 

Ein Glück, dass man diese Corrs-Kompositionen in ihrer natürlichen Schönheit noch in diesem EPK bewundern konnte. Denn im Studio kam dann der Förster und räumte auf. Olle Romo produzierte und programmierte viele Sounds über die immer noch vorhandene Violine und Tin Whistle. Wer sich konzentriert, hört Sharon Corr (Geige) und Andrea Corr (Tin Whistle) hinter den dicken E-Gitarren-Wällen und Synthesizer-Gewittern noch heraus, und das bei der überwiegenden Anzahl der Lieder auf dem Album. Olle Romo schaffte es sogar, der Stimme von Andrea Corr ihre Magie zu nehmen und die glasklaren Percussion-Schläge von Caroline Corr auf ein Rhythmus-Etwas zu reduzieren, das auch im Drum-Computer hätte entstehen können.

 

Was er den vieren zum Glück nicht nehmen konnte, sind die tollen Kompositionen. Für mich enthält „Borrowed Heaven“ keine einzige schwache oder gequält wirkende Komposition. Neben den oben schon erwähnten Titeln gibt es beispielsweise noch die locker-poppigen „Even If“ und „Baby Be Brave“, oder das mit einem leicht afrikanischen Rhythmus angereicherte „Borrowed Heaven“, das auch in Kooperation mit der schwarzafrikanischen Vokalband Ladysmith Black Mambazo entstanden ist (mit denen die Corrs zusammen auf dem Nelson-Mandela-Konzert „46664“ Ende 2003 auch ein Zulu-Lied gesungen hatten). Im Gegensatz zum neuen Album von Anastacia etwa (Anastacia 2004), bei dem man irgendwann die Anstrengung der Komponisten merkt, rund klingen zu wollen (aber nicht richtig zu können), scheinen den Corrs (die elf der zwölf Titel selbst komponiert haben) die Melodien wirklich mit Leichtigkeit aus der Feder zu fließen. Gleiches gilt für viele, nicht für alle, Texte. „Angel“, „Humdrum“ und „Borrowed Heaven“ haben nachdenkenswerte bzw. witzige Texte. Sogar „Summer sunshine“ hat einen hintergründigen Text, obwohl das den meisten Profi-Musikkritikern in ihrer hektischen „Ich-hör-30-Sekunden-in-jeden-Titel-rein“-Manier wohl gar nicht aufgefallen ist. Mit „Even If“ gibt es aber auch belanglose, flache Texte, aber das sei einer Pop-Band verziehen.

 

Ein Ausreißer, für mich aber auch absolut gelungen, ist die von Bono stammende BalladeTime Enough for Tears“, die als Filmmusik schon vorher entstanden war. Interessant, dass die Produktion hier transparenter klingt, die Stimme von Andrea voll zur Geltung kommen kann, und selbst ein echter Kontrabass zum Einsatz kommt.

 

Nimmt man die Kompositionen, so ist für mich „Borrowed Heaven“ ein ganz großer Wurf, vergleichbar mit den beiden ersten Corrs-Alben „Forgiven Not Forgotten“ und „Talk On Corners“. Auf jeden Fall sind die Kompositionen durchgehend weitaus besser gelungen als auf der reinen Pop-Produktion „In Blue“. Betrachtet man die Instrumentierung, so sind die Corrs auch wieder Back to the Roots, weil Violine und Tin Whistle bei fast jedem Song eine Rolle spielen. Auch hier scheinen übrigens Profi-Musikkritiker falsch zu liegen, da sie glauben, diese irischen Wurzeln nicht mehr zu hören. Wie sagte schon Sepp Herberger: Ein Pop-Song dauert 3 bis 5 Minuten, nicht nur 30 Sekunden (naja, bei Herberger ging es irgendwie um 90 Minuten).

 

Während Kompositionen und die Instrumentierung, auch die Virtuosität der Geschwister an ihren Instrumenten und die Stimme von Andrea das Prädikat „mit Auszeichnung“ verdienen, muss sich die Produktion eine bereits oft geäußerte Kritik gefallen lassen: weniger wäre mehr.

 

Und weniger wäre auch billiger: Stellen wir uns einfach vor, der Corrs-Wald würde einfach im Naturzustand weiterwachsen, wir würden den Förster und den Dampfwalzenfahrer, die Waldboden-Lackier-Firma und die tägliche Putzkolonne für den Wald einfach entlassen: Es käme uns alles viel billiger und sähe (sorry, Herr von Lausitz-Ölpen) im Naturzustand viel besser aus. Und auch ein Produzent wie Olle Romo kostet eben viel Geld – und die Produktion hat auch viel Zeit erfordert. Wahrscheinlich hätten die Corrs doch mal in den gelben Seiten nachschlagen müssen und die Hamburger Soulsängerin Regy Clasen fragen sollen, wie man ein Album transparent, luftig, locker, sparsam produziert – zu einem Bruchteil der Kosten – und viel angenehmer zum Hören später. Hoffen wir, dass die Corrs selbst dazulernen. Caroline äußerte vor kurzem in einem Interview, dass das nächste Corrs-Album vielleicht ganz anders wird und eventuell live eingespielt wird – genau, man sieht am Electronic Press Kit, dass so das bessere „Borrowed Heaven“ entstanden wäre. Zumindest hätte ich mir die EPK-Version als zweite CD zum Album gewünscht. Wie man eine komplette Live-Version des Studio-Albums als Zugabe den Fans ausliefern kann, dazu hätte auch das letzte Album von Regy Clasen als Vorbild dienen können.

 

Im Stenkelfeld-Sketch flüchtet der Reporter zum Schluss vom Hochsitz und schenkt dem  Förster keine Beachtung mehr. Machen wir es auch bei „Borrowed Heaven“ so: Schenken wir dem Produzenten (und auch einigen wenigen Texten) keine Beachtung, gilt als Fazit: Ein traumhaftes Album, vom ersten bis zum zwölften Titel.

 

a.h. (andreas@lonereviewer.de)

 

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